Deprivation bei Laborbeaglen

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Deprivation bei Laborbeaglen wurde erstellt von *Anja*

06 Aug. 2013 21:16
#1
Meine Miss Jones kam am 16. Februar 2012 zu uns. Seit anderthalb Jahren lernt sie, einfache Alltagssituationen zu meistern, wie z.B. durch geöffnete Türen gehen. Es hat Monate gedauert, bis sie sich ohne zu zögern getraut hat, andere Situationen dauern bis heute an und werden immer wieder geübt. Abrufen klappte von Anfang an wunderbar, sie lief nach vier Wochen bei mir komplett frei aber „Sitz“ und andere Kommandos haben wiederum teils sehr lange gedauert, „Platz“ geht bis heute nicht. „Bleib“ geht nur, wenn ich mich nicht mehr als drei Meter von ihr entferne, danach läuft sie sofort zu mir. Seit sie bei mir ist, hat sie zweimal mit einem Spielzeug gespielt. „Bloß“ zweimal und ich habe mich gefreut, wie ich es nicht beschreiben kann.

Warum ist das so? Warum sind andere Laborbeagle sofort in der Welt und meine hat enorm viel Angst, braucht viel Zeit und hat enorm Schwierigkeiten, Dinge zu erlernen?

Der Grund nennt sich „Deprivationssyndrom“. Dieses Syndrom bezeichnet, dass Hunde in der Welpenzeit einer Armut an äusseren Umweltreizen (z.B. Geräusche, Gerüche, optische Beschaffenheiten, Licht, Bodenbeschaffenheiten etc. ) und / oder sozialen Reizen (Kontakten zu anderen Lebewesen wie Hunde, Menschen, Katzen etc.) nicht ausreichend oder nicht frühzeitig genug ausgesetzt waren. Die Deprivation kann jedoch auch noch im Erwachsenenalter des Hundes eintreten, wenn er reizarm z.B. ausschliesslich im Garten oder an der Kette gehalten wird, wobei dann oft andere Symptome eintreten z.B. das Hin- und Herwiegen des Kopfes oder des ganzen Körpers.

Die Deprivation äußert sich in Entwicklungsverzögerungen und überiegend bleibenden Entwicklungsstörungen. Die Symptome sind vielfältig, Ängste gehören fast immer dazu, aber auch Aggressivität, Kreiseln, zwanghafte Verhalten wie übermäßiges Belecken, Rückzug und Depressivität, Unverträglichkeiten mit Artgenossen, Krankheitsanfälligkeit, Schwierigkeiten bestimmte Reize zu verarbeiten, damit eben eine Unfähigkeit sich der neuen Umgebung anzupassen oder auch Schwierigkeiten (bis zur Unfähigkeit) Bindung aufzubauen.

Sie ist begründet in der mangelhaften Ausbildung der Gehirnstruktur des Hundes. Das Gehirn entwickelt sich beim Hund zu einem guten Teil erst nach der Geburt unter dem Einfluss von Sinnesreizen. Kommen keine oder zu wenige Informationen an die Nervenzellen, werden sie in einem genetisch programmierten Prozess für immer weggeräumt, weil sie ja ohnehin nicht gebraucht werden. Nervenzellen, die einmal durch ankommende Reize stimuliert waren, sind vor diesem Prozess geschützt. Die Zahl und Vernetzung der Nervenzellen ist reduziert und damit auch die Möglichkeiten sich flexibel an neue Situationen oder Umweltbedingungen anzupassen. Diese Anpassungsmöglichkeiten sind der eigentliche Grund für diese Art der Gehirnentwicklung – das Gehirn lernt im Laufe des Wachstums sich individuell dem Lebensraum entsprechend anzupassen.

Diese Gehirnstruktur wird in der Lebensphase von ca. drei Wochen bis drei Monaten gebildet; diese Zeit bedeutet die schnellste und intensivste Lernenphase. Lernen nach dieser Phase ist für den Hund selbstverständlich noch möglich, ist aber langsamer und mühsamer gegenüber der Lernphase in der Welpenzeit.

Damit einher geht eine verlangsamte Lernfähigkeit. Hund mit Deprivationssyndrom können bei Angstproblemen z.B. nicht durch Gewöhnung und das stetig wiederholte Erleben einer eigentlich ungefährlichen Situation verknüpfen, dass diese "ungefährlich" ist. Sie können in entspannten Situationen jedoch durchaus genauso lernen wie andere Hunde auch. Jede Störung führt, je nach Intensität jedoch dazu, dass das Verhalten nicht mehr abrufbar ist. Jede erhebliche Störung wirft den Hund wieder auf Null zurück.

Die Deprivation ist nicht heilbar. Sie ist und bleibt eine Entwicklungsstörung und diese Entwicklung kann nicht nachgeholt werden. Es ist jedoch möglich, den Hund zu unterstützen, in dem ihm sein Leben vorhersehbar gemacht wird. Ihm sollte ein ein stabiles Umfeld geboten werden. Hilfreich ist auch, Signale z.B. durch Clickern einzuüben, die zur Entspannung führen und als Zeichen für den Hund, dass er etwas richtig macht. Auch gibt es Möglichkeiten, diese Hunde durch Globuli oder auch Medikamentengabe zu unterstützen, dieses sollte jedoch auf JEDEN FALL durch einen Profi begleitet werden. Ein mit einem Deprivationssyndrom lebender Hund kann durchaus ein normales Leben führen und es hängt auf alle Fälle auch von seiner eigenen Veranlagung ab, ob und wie stark er durch das reizarme Aufwachsen betroffen ist. Je nachdem gibt es Laborbeagle, die sofort in der Welt stehen oder lange Jahre brauchen.


Meine Miss Jones hat ein Deprivationssyndrom und kam mit einem Jahr und sieben Monaten aus dem Labor. Ich erlebe und erfahre die Deprivation jeden Tag erneut und bin stolz, wenn sie sich immer angstfreier zeigt, wenn sie lernt, wie jetzt das Apportieren, wenn sie auch mal mit einem Spielzeug spielt. Sie ist jetzt ein lebensfroher Hund und ich bin gespannt auf ihre weitere Entwicklung.

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Karen antwortete auf Deprivation bei Laborbeaglen

06 Aug. 2013 22:09
#2
Liebe Anja,

danke für deinen Anstoß` für das Deprivations Syndrom.
Unsere Nila, die vor Scarlett unser Leben bereichert hat, kam mit knapp 3 Jahren aus Greenhill zu uns und war auch dadurch beeinträchtigt (was bei Greenhill nicht verwunderlich war :-( ).
Sie hatte bis zuletzt Angst vor fast allem und hat sich auch nicht dran gewöhnt durch mehrmaliges Erleben, sei es Dunkelheit oder wehende Blätter oder einfach Geräusche, auch wenn sie nicht mehr panisch reagierte, wie zu anfangs.
Sie konnte sich auch nicht an Sam orientieren, (so wie Scarlett) und auch keine echte Beziehung zu ihm aufbauen, leider, auch andere Hunde konnte sie nicht ab.
Aber wenn ich oder Adrian in ihrer Nähe waren, dann war alles gut - sie hat uns geliebt mit der ganzen Kraft ihrer kleinen, verletzten Hunde Seele und wenn ich von der Arbeit kam, dann hat sie einen Freudentanz inkl Gejodel hingelegt, dass alle Nachbarn verzückt zugeschaut haben.
Sie hat nie gespielt, ausser als sie läufig war, da hat sie Sam verfolgt und ihm immer mal zwischen die Beine gelinst, ob da nicht doch vielleicht wieder was hingewachsen ist :-)
Aber trotz allem hat sie sich bei uns wohl gefühlt und war zu Hause und in Sicherheit.
Und mehr wollten wir nicht, wir haben nichts von ihr erwartet, haben sie einfach unendlich lieb gehabt, und sie so gelassen, wie sie nun mal war - auch, wenn es manchmal schwer war.
Ihre Fortschritte waren da, aber in klitzekleinen Schritten und manchmal machte sie einen Schritt vorwärts und zwei zurück, wenn irgendwas aus der Reihe passierte.
Beim Gassi konnte sie ihre Ängste oft vergessen, Nase am Boden, Schwanz in die Höhe und schnüffeln, schnüffeln, schnüffeln...
Das war schön, da spürte man ihre Lebensfreude.
Ich möchte keine Stunde mit ihr missen und sie war unser Hund! Sie fehlt uns jeden Tag!

liebe Grüße
Karen
Je hilfloser ein Lebewesen ist, desto größer ist sein Anrecht auf menschlichen Schutz vor menschlicher Grausamkeit.
(von Mahadma Gandhi)

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Kathi antwortete auf Deprivation bei Laborbeaglen

06 Aug. 2013 22:31
#3
Karen, Dein Statement treibt mir hier gerade Tränen in die Augen.

Unsere Tammy kommt auch aus Green Hill ... und war und ist doch ganz anders.
Die Hunde verpacken ihre Erfahrungen unterschiedlich. Das wichtigste ist eben dann anschließend, das es Leute gibt, die die Geduld aufbringen und die Bereitschaft sich über Kleinigkeiten zu freuen - die ihre Hunde so lieben wie Du!
Danke!
Ich glaube das Schnüffeln und Essen sind die Tätigkeiten in denen die meisten Hunde ihre Vergangenheit vergessen, da sind sie instinktgesteuert - das funktioniert fast immer. Ähnlich wie die Läufigkeit.
Ich habe mich Anfang des Jahres auch sehr mit dem Deprivationssyndrom auseinandergesetzt, es ist schwer zu akzeptieren, das etwas unwiederbringlich verloren ist. Und irgendwie möchte man ja auch der Wissenschaft ein Schnippchen schlagen - und manchmal funktioniert´s!
Danke Anja, Marion hatte an anderer Stelle auch schon mal darüber geschrieben - ich weiß gar nicht ob sie damit schon fertig war ;) ?!
Viele Grüße,
Kathi

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Lillot antwortete auf Deprivation bei Laborbeaglen

06 Aug. 2013 23:36 - 06 Aug. 2013 23:36
#4

*Anja* schrieb:
Die Symptome sind vielfältig, Ängste gehören fast immer dazu, aber auch Aggressivität, Kreiseln, zwanghafte Verhalten wie übermäßiges Belecken, Rückzug und Depressivität, Unverträglichkeiten mit Artgenossen, Krankheitsanfälligkeit, Schwierigkeiten bestimmte Reize zu verarbeiten, damit eben eine Unfähigkeit sich der neuen Umgebung anzupassen oder auch Schwierigkeiten (bis zur Unfähigkeit) Bindung aufzubauen.


Liebe Anja, ich habe den Text mit großem Interesse gelesen und Lilly zumindest teilweise wieder erkannt. Lilly ist im Alltag kaum noch ängstlich, aber es dauerte Monate, bis sie viele Ängste abgelegt hat, zB Türschwellen, Männer... Lautes Knallen ist auch heute noch problematisch. Aber sie rennt nicht mehr wie zu Anfang gegen Wände, ist nicht mehr so depressiv, fällt immer weniger in sich zusammen (freezen) und wird mit Artgenossen verträglicher. Die Reizverarbeitung ist definitiv gestört, so kann sie zb nicht zuordnen, aus welcher Richtung sie gerufen wird. Und krankheitsanfällig ist sie leider auch :( Aber damit kann man gut leben.
Was bei uns das größte Problem ist ist ihre Trennungsangst. Aber vielleicht hat das auch einfach mit ihrer Geschichte und z.T. auch mit Deprivation zu tun. Als ich gerade deinen Text gelesen habe wurde mir wieder bewusst, dass Lilly ja nichts dafür kann. Und dass es normal ist, dass sie in Situationen, die für sie schwierig sind, viel langsamer lernt. In der Hundeschule ist sie der absolute Streber und mit Begeisterung dabei, beim alleinebleib-Training schaffen wir nach einem Jahr Training wenn es gut läuft 30 Minuten, manchmal klappt es immer noch garnicht. Es tut gut zu lesen, dass man nicht alleine vor solchen Dingen steht. Und mir wird wieder bewusst, dass ich in dieser Hinsicht auch einfach noch geduldiger werden muss! LG Katrin
Letzte Änderung: 06 Aug. 2013 23:36 von Lillot.

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Vicky antwortete auf Deprivation bei Laborbeaglen

07 Aug. 2013 01:10
#5
Über Deprivation wird ja in letzter Zeit häufiger gesprochen/geschrieben - es ist aber auch viel oberflächliches dabei. Deshalb:

Danke, Anja, für diesen lesenswerten Bericht. Dieses Thema wird mich immer interessieren, und Du schilderst es so lebensnah, ich kann mir Miss Jones dabei sehr gut vorstellen.
Das gute ist, dass es mit der Zeit wirklich besser wird - auch wenn die Schrittchen manchmal so klein sind, dass man mitunter schon sehr nah dran sein muss, um sie mitzukriegen!
Unser Leben mit mittlerweile Zweien von dieser Sorte ist mittlerweile eher von Stagnation geprägt - was aber nicht unbedingt schlecht ist, solange es nicht allzu viele Rückschritte gibt ;) :blink:

Kathi schrieb: Danke Anja, Marion hatte an anderer Stelle auch schon mal darüber geschrieben - ich weiß gar nicht ob sie damit schon fertig war


Äh, nööö, eigentlich nicht....ich greife es demnächst mal wieder auf.....

Liebe Grüße!
Marion
Ich schreibe Bücher, oft geht es darin um Beagle :-) Bitte abonniert meinen Newsletter und folgt mir bei Amazon! www.meganmcgary.com

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Wencke antwortete auf Deprivation bei Laborbeaglen

07 Aug. 2013 07:01 - 07 Aug. 2013 07:02
#6
Als Tommy vor 3,5 Jahren zu mir kam war er nicht anders als viele Laborhunde. Er hatte Angst. Angst vor Geräuschen, Männern, Türen, Kabeln u.v.m. Er liebte Lilly und mich mehr war zu diesem Zeitpunkt nicht drin.

Heute leben wir auf einem Ferienhof. Jede Woche bzw. tgl. kommen neue Menschen hierher. Tommy LIEBT dieses Leben. Er läuft frei auf dem Hof und kann sich jeder Zeit zurückziehen, wenn er will.

Er hat gelernt das man/Hund hier die Menschen leicht um die Pfote wickeln kann.
Zu gerne schmeist er sich von den Kindern hin und lässt sich Stundenlang kraulen, gerne auch auf dem Arm in Babyhaltung. Kurz danach muss er schon wieder aufpassen, wer da auf den Hof fährt, um sich anschließend das nächste Streichelopfer zu suchen oder eine Flitzrunde über den Reitplatz drehen oder nochmal nachschauen was es bei den Feriengästen zu Mittag gibt ( wir haben hier eigentlich Fütterungsverbot, was aber einen ordentlichen Beagle bekanntlich nicht stört)
Die meisten Feriengäste glauben mir heute nicht, dass er sich zu Anfang kaum anfassen lies und aus einem Labor stammt.

Oft kann ich selbst nicht glauben, das er heute sein Leben so gut meistert und mit viel Freude dabei ist.

Vorkurzem hat er mich im Spiel das erste Mal gezwickt und am Pullover gezupft. Ich habe mit den Tränen gekämpft vor Freude. Freude darüber dass er sich das traut, Freude darüber das es nach 3,5 Jahren noch weitere Vorwärtsschritte gibt, Freude darüber das dieser ehem. kleine verschreckte Hund gelernt hat zu leben, Freude darüber das er irgendwie immer grinst und lächelt. Jeden Tag aufs Neue.

Liebe Interessenten, Laboriehalter und Liebhaber gebt nicht auf, es ist ein langer zäher und schwerer Weg mit vielen Rückschritten und Enttäuschungen. Aber irgendwann wird jeder Hund im Rahmen seiner Möglichkeiten sein Leben führen, ihr seit diejenigen die es ihm zeigen müssen. Diejenigen die mit unendlicher Geduld und viel Eigendisziplin und Eigenkritik diesen Hunden das Leben zeigen und beibringen müssen.
Letzte Änderung: 07 Aug. 2013 07:02 von Wencke.

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